Freitag, 24. April 2015

Geiseln der Demografie; in der Schweiz ist eine Politik auf Kosten der Alten unmöglich geworden

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Können auf den vollen politischen Support zählen: Schweizer Senioren

«Schweizer Rentensystem in zehn Jahren bankrott», titelte diesen Montag die «Financial Times». Der Umwandlungssatz von 6,8 Prozent sei utopisch geworden, die Pensionskassen versprächen heute weit mehr, als sie halten könnten. Die Reaktion in der Schweiz auf den alarmierenden Artikel verblüffte: Sie war gleich null. 

Dabei ist die Überalterung ein Kernproblem unseres Landes, wenn nicht sein ärgstes überhaupt. 2030 hat laut Bundesamt für Statistik jeder vierte Schweizer das Pensionsalter erreicht oder überschritten. Und fast jeder zehnte wird dann ein Greis von über 80 Jahren sein.

Doch die Alten sind im Wahljahr 2015 sakrosankt, bei Rechten wie Linken. Die SP will der AHV über die Erbschaftssteuer gerade weitere Milliarden zufliessen lassen. Politisch weitgehend akzeptiert ist, dass die steigenden Gesundheitskosten, die in erster Linie durch die Vergreisung verursacht werden, auf die jungen Prämienzahler abgewälzt werden.

Es ist offenkundig: Unsere Politiker sind zu Geiseln der Demografie geworden. Die Wähler werden älter und älter, und ältere Wähler wählen zuverlässiger als jüngere. In der Stadt Zürich stimmen bei den Frauen die 65-jährigen am häufigsten ab, bei den Männern sind es die 75-jährigen. Auf Kosten der Alten ist deshalb kein Staat mehr zu machen. Nach der gescheiterten 11. AHV-Revision 2004 und der abgelehnten Anpassung des Umwandlungssatzes 2010 scheuen die Parteien selbst kleinste Kürzungen. Sollte Innenminister Alain Berset dennoch eine substanzielle Reform gelingen, käme das einem historischen Houdini-Trick gleich.

Die Vergreisung ist eine volkswirtschaftliche Belastung, zeitigt aber auch eine diffuse gesellschaftliche Lethargie. «Die Überalterung ist ein Segen», erklärte jüngst Peter Gross gegenüber der «Berner Zeitung». Der frühere HSG-Professor und Soziologe gehört zu den Lobrednern der Seniorengesellschaft; dank der Gelassenheit der Alten sinke die Aggressivität unserer Gesellschaft. «Ich habe keine Lust auf Schlägereien mit 73.» Sicher, Schlägereien braucht niemand, und das sehen die allermeisten Jungen genau gleich. Allerdings hätte Gross zugleich anfügen können: Mit dem Alter sinkt eben auch die Lust auf Risiko, auf News, auf Innovation. Mit ihrer Betulichkeitsobsession machen es Alterslobbyisten wie Gross der Schweiz schwer, in der digitalen Ära zu brillieren.

«Bewahrung» lautet vielmehr das grosse Motto. Am deutlichsten wird das bei Migrationsfragen: Einwanderung wird nur noch als Bedrohung empfunden. Erfolgreich verdrängt wurde, dass die heutige Schweiz Migration braucht, wenn sie produktiv bleiben und ihre Sozialwerke erhalten will. Bezeichnend: Während in der Schweiz eine unselige Diskussion über die eingebürgerten Ex-Kosovaren der Schweizer Fussball-Nati geführt wurde, lancierte der «Economist» in den USA eine Debatte über den verjüngenden, belebenden Einfluss zugezogener Latinos (Titel: «How to Fire Up America»).

Doch wie stehen die Jungen zur Vergreisung des Landes? Sie halten sich zurück, geben sich kulant, lassen sich verwalten. An den Zürcher Kantonsratswahlen nahm nicht einmal jeder fünfte 18-Jährige teil. Irgendwann, spätestens wenn das Rentensystem tatsächlich crashen sollte, werden sie sich jedoch der einen heiklen Frage stellen müssen: ob ihnen die Schweiz als Altersheim tatsächlich genügt.

Quelle: Keystone / Linus Schöpfer / Tagesanzeiger

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